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Hallo Emotionen. Seid ihr es?

In letzter Sekunde erwischen wir die Straßenbahn. Während ich hineinstolpere und gleichzeitig nach meinem Ticket suche, rutscht mir der Rucksack von der Schulter und breitet seinen Inhalt vor unseren Füßen aus. Völlig außer Atem betrachte ich die Peinlichkeiten einer typischen Frauenhandtasche. Meine Freundin zieht ein komisches Gesicht und ich fange unwillkürlich an zu lachen.

Kurz darauf prusten wir beide laut drauf los und enden in einem unserer typischen Lachanfälle. Ich versuche, mich zu beruhigen und schnappe nach Luft. Da bemerke ich, dass die übrigen Fahrgäste fast mucksmäuschenstill sind. Genervte Blicke von allen Seiten und eine ältere Frau, die so etwas murmelt, wie „...kein Benehmen...“ und dabei nur den Kopf schüttelt. Ich stupse meine Freundin an, leise zu sein.

Ist lautes Lachen in der Bahn jetzt verboten?

Da mir diese merkwürdige Situation nicht so schnell aus dem Kopf gehen wollte, begann ich in den darauffolgenden Tagen verstärkt, die Menschen in meinem Umfeld zu beobachten: in Cafés, in Zügen, an Haltestellen, an öffentlichen Plätzen und in Supermärkten. Was ich wahrnahm, war erschreckend: so viele Menschen mit emotionslosen Gesichtern - kein Wutausbruch, keine Tränen und nur selten ein freundliches Lächeln. Dann war da aber dieses Pärchen, das durch öffentliches Knutschen an einer Bushaltestelle die Blicke auf sich zog. Es war nicht äußert wild, aber doch intensiv. Auch ich konnte nicht so schnell wegschauen und empfand bei ihrem Anblick etwas zwischen Fremdscham und Neid. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass sie sich doch bitte ein Zimmer nehmen sollten, anstatt sich hier in aller Öffentlichkeit so hinzugeben.

Ha! Echt jetzt?

Tatsache ist, dass uns die heutige Gesellschaft ein Bild vorlebt, in denen Emotionen keine Rolle zu spielen scheinen oder gar als abstoßend empfunden werden. Überall perfekt inszenierte Menschen mit gephotoshoptem Fake-Lächeln, die uns mit scheinbar versteckten, aber tatsächlich offensichtlichen Werbebotschaften weismachen wollen, dass dies das echte Leben sei.

Die pure Ironie.

Doch scheinbar haben wir uns leider an diese Form des Lebens gewöhnt. Immer seltener zeigen wir unsere Gefühle in der Öffentlichkeit, verstecken diese gar vor uns selbst. Wir haben Angst, Emotionen zuzulassen und Kontrolle abzugeben, da dies als eine Form von Schwäche verstanden werden könnte.

Seit wann symbolisieren Emotionen denn bitte Schwäche?

Eigentlich sind es ja genau unsere Emotionen, die den Menschen mit seinen vielen Facetten ausmachen und ihn maßgeblich von Tieren unterscheidet. Und doch scheinen wir mehr und mehr danach zu streben, ein nicht existentes stets positives Bild von uns nach außen zu tragen. Die zunehmende Selbstdarstellung von Menschen im Internet auf Social Media Plattformen hat diese Entwicklung noch einmal auf eine neue Ebene gehievt. Aber was erzähle ich den Menschen, wenn ich jeden Tag ein Selfie oder ein Foto von mir lächelnd im Café sitzend oder mit meinem neuen Outfit auf Instagram poste? Aus über 100 Fotos suche ich dann den besten ‚Schnappschuss’ aus, bearbeite ihn mit mehreren Filtern und warte anschließend auf die richtige Uhrzeit zum Posten, damit möglichst viele Menschen mein Foto sehen und ich mich über noch mehr ‚Gefällt mir’-Angaben und Kommentare freuen kann.

Was davon soll bitte noch echt sein?

Traurig ist, dass wir im Innersten wissen, dass alles mehr Schein als Sein ist. Trotzdem streben wir ehrgeizig nach dem Schein, anstelle das Sein intensiv zu leben. Sind wir wirklich so abgestumpft, dass wir auf all das reinfallen und uns gar nicht mehr trauen, an jemandem konstruktiv Kritik zu äußern oder mal eine eigene persönliche Meinung zu vertreten, die sich von der Masse abhebt? Also das, was wir wirklich denken und nicht nur das, was andere gerne hören möchten.

Wir reihen uns lieber ein in die Kette der Gefühlslosen. 

Vor circa zwei Monaten habe ich nach meinem Studium eine Schauspielausbildung an der „Schauspielschule der Keller“ in Köln begonnen. Bereits in den ersten Wochen breiteten sich so viele verschiedene Emotionen in meinem Körper aus, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie besitze. Plötzlich war ich in der Lage, mich auf eine ganz andere intensivere Art selbst zu spüren: frei und losgelöst. All die Emotionen, die ich im täglichen Leben unbewusst unterdrückt habe, nahmen sich endlich ihren verdienten Platz und Raum.

Unabhängigkeit.

Es entwickelte sich auf einmal eine Unabhängigkeit zu den Dingen da draußen. Plötzlich ist es mir egal, anders zu sein, ich bin stolz darauf. Stolz darauf so zu sein, wie ich bin. Ich muss nicht nach etwas streben, Lebenszeit und Energie verschwenden, für das es sich nicht zu streben lohnt. Es ist hilfreich, dieses scheinbar perfekte Bild des Menschen in unserer Gesellschaft einzuordnen und sich frei davon zu machen. Ich bin Teil dieser Gesellschaft, dieser neuen Generation der Social Media, der Selbstdarstellung und –vermarktung. Ich befinde mich inmitten all dieser Prozesse. Ich kann Fotos von mir posten und mein Leben mit der virtuellen Welt teilen, wenn ich will.

Und doch bin ich in der Lage, zu unterscheiden. Ich will das echte, pure, intensive und leidenschaftliche Leben spüren und für eine Sache brennen.

Ich will Grimassen schneiden und Türen knallen. Ich will schreien, lachen, weinen, das größte Glück und die tiefste Verzweiflung fühlen, und das auch nach außen zeigen, egal was die anderen denken.

Ich will einfach nur eins: Mensch sein. 

 

 

©Fotos: Ben Hammer

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Kommentare: 2
  • #1

    labe.dezemberkind (Montag, 30 Oktober 2017 22:58)

    Liebe Luii,
    Ein sehr schöner Einstieg und ein spannender Beitrag. Ich habe letztens erst drüber nachgedacht, wie ich mich über ein paar Mitfahrerinnen in der Bahn innerlich bei mir selbst beschwert habe, die zu laut ihre gute Laune kund taten. Und dann fiel mir auf, dass ich mich vor kurzem ganz ähnlich benommen hatte mit Freundinnen. Was passiert da nur in einem? Ich konnte über mich und meine "Double Standards" lächeln. Und das in der Öffentlichkeit im Zug ��

  • #2

    Thank you for sharing Inspiration. (Dienstag, 07 November 2017 23:04)

    Gesten und vor allem derart intensive Gedanken sollten auch so gemeint sein.
    Ich wünsche Dir derart authentische, nachhaltige Reflexionen. Die Menschen merken sehr schnell, ob hier Lippenbekenntnisse oder nachhaltige Haltungen am Start sind. Ich wünsche Dir letztere. Von Herzen.